Eine Herausforderung für den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz

Justitia et Pax spricht sich für ein klares JA zur Abstimmung über die IV Zusatzfinanzierung aus

„Einer trage des anderen Last…“ Gal 6,2

Die Abstimmung am 27. September über die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung kann zu einer Herausforderung für den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz werden. Obwohl Bundesrat und Parlament die Vorlage zur Annahme empfehlen, dürfte das Ergebnis noch offen sein. Eine Ablehnung durch das Stimmvolk würde eine gerechte Finanzierung notwendiger IV-Leistungen blockieren. Gegenüber den Betroffenen, Behinderte und Kranke, wäre dies ein unwürdiges Signal des Misstrauens und fehlender Solidarität.

Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen

In der Präambel unserer Bundesverfassung wird die Stärke des Volkes an das Wohl der Schwachen geknüpft. Dies widerspiegelt eine alte und dafür umso wichtigere Erkenntnis, dass nämlich eine Gesellschaft dann als human zu bezeichnen ist, wenn auch die Schwachen, also die nicht oder weniger Leistungsfähigen und Kranken, einen würdigen Platz in ihr haben, der sie wohl sein lässt. Dementsprechend lauten auch die wichtigsten Zielsetzungen der IV:

  • die Invalidität mit geeigneten, einfachen und zweckmässigen Eingliederungsmassnahmen verhindern, vermindern oder beheben;
  • die verbleibenden ökonomischen Folgen der Invalidität im Rahmen einer angemessenen Deckung des Existenzbedarfs ausgleichen;
  • zu einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung der betroffenen Versicherten beitragen.

Die maximale IV-Rente betrug im Jahre 2008 2200Franken, durchschnittlich wurden 1600 Franken ausbezahlt. Dies erklärt warum fast jeder zweite IV-Rentenbezüger (2008 waren es 41 Prozent) zusätzlich Ergänzungsleistungen beanspruchen muss. Die Maximalrente bewegt sich somit knapp auf dem Niveau des Existenzminimums, wobei zu berücksichtigen ist, dass Kranke und Behinderte häufig zusätzliche Aufwendungen haben. Die finanzielle Situation der IV hat sich in den letzten Jahren stark verschlechtert. Inzwischen gefährdet das Defizit die AHV, aus deren Fonds dieses finanziert wird. Durch die 5. IV-Revision konnte mittlerweile die Zahl der Neurenten stabilisiert werden. Die Abstimmung über die IV-Zusatzfinanzierung ist vor allem geprägt vom Thema des Missbrauchs. Eine Studie des Bundesamtes für Sozialversicherungen kommt zu dem Ergebnis, dass Missbrauch tatsächlich existiert, dessen Ausmass aber überschätzt wird. Das bedeutet, dass der Missbrauch bei der Invalidenversicherung zwar aufgedeckt und bekämpft werden muss, dass aber die Sanierung der IV-Finanzen allein über die Missbrauchsbekämpfung eine Illusion ist und der Ernsthaftigkeit der Sache nicht gerecht wird. Angesichts der aktuellen Verschuldung der IV von knapp 13 Mrd. Franken bei einer jährlichen Zunahme von rund 1 Mrd. Franken wird die finanzielle Herausforderung, vor der wir stehen, offensichtlich. Missbrauchsbekämpfung kann hier nur einen kleinen Teil beitragen. Wenn die Sanierung der IV jedoch ausschliesslich über Sparmassnahmen realisiert würde, müssten die Renten um rund 40 Prozent gesenkt werden. Das wäre Sparpolitik zu Lasten der ohnehin Benachteiligten in unserer Gesellschaft.

Menschenwürde, sozialer Zusammenhalt und Chancengerechtigkeit

Als Stabskommission der Schweizer Bischofskonferenz hat sich auch Justitia et Pax mit diesen Zusammenhängen befasst. Unser JA zur IV-Zusatzfinanzierung stützt sich vor allem auf drei grundlegende Aspekte, die für ein gelungenes Zusammenleben in unserer Gesellschaft notwendig sind: Menschwürde, sozialer Zusammenhalt und Integration. Der Ausgangpunkt unserer Überlegungen ist die Menschenwürde, die allen Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter, Leistungsfähigkeit und Nationalität zukommt. Die gleiche Menschwürde ist nach jüdisch-christlichem Verständnis in der Gottebenbildlichkeit (Gen 1,27) aller Menschen grundgelegt. Unsere in Christus begründete Hoffnung auf ein „Leben in Fülle“ gilt deshalb auch und besonders für die Kranken und Schwachen. Unser Anliegen ist es deshalb, bei der Gestaltung unserer Gesellschaft insbesondere die Situation dieser Menschen im Blick zu haben. Für sie ist ein Leben in Würde, das ihnen Möglichkeiten der Teilhabe und der Teilnahme an und in unserer Gesellschaft bietet wesentlich mit einer angemessenen Unterstützung durch die IV verbunden. Im Falle einer Ablehnung der Vorlage zur IVZusatzfinanzierung würden der Druck zum allgemeinen Leistungsabbau und die Zulassungsbeschränkungen bei der IV deutlich zunehmen. Darunter würde der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft leiden. Menschen mit Gebrechen und Krankheiten könnten dann immer weniger auf die solidarische Unterstützung durch unsere wohlhabende Gesellschaft zählen. Dabei sind es gerade auch diese Menschen, die Anspruch haben auf ein würdiges und angemessenes Leben in einer Gesellschaft, die Verständnis aufbringt für ihre besonderen Bedürfnisse und ihnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten gerechte Chancen auf ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben bietet.

Dem stehen Befürchtungen gegenüber, die geringe Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,1-0,4% während 7 Jahren würde einerseits inakzeptable wirtschaftliche Nachteile bringen und die unteren Einkommen besonders belasten und andererseits weiterhin den Missbrauch bei der IV fördern. Angesichts der finanziellen Herausforderungen, vor denen die IV steht, ist Justitia et Pax der Überzeugung, dass die geringfügige zusätzliche Belastung durch diese Erhöhung der Mehrwertsteuer sowohl für Haushalte und Wirtschaft vertretbar ist. Wir setzen uns deshalb für eine zuverlässige und finanziell solide IV ein, weil eine Finanzierung über den AHV-Ausgleichfonds schlussendlich auch die AHV schwächt. Davon wären dann alle betroffen, auch und besonders die unteren Einkommen, die im Alter wesentlich von der AHV leben. Aus den genannten Gründen empfiehlt die Schweizerische Nationalkommission Justitia et Pax ein klares JA für die Abstimmung am 27. September über die Zusatzfinanzierung der IV.

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